Freunde
Philomena blinzelte in die grelle Sonne, die ihr unerbittlich entgegenschien. Sie hätte sich über eine leichte Brise gefreut, denn für diesen Monat war es schon recht warm in dem kleinen beschaulichen Urlaubsdorf. Bei den Gedanken an „Urlaubsdorf“ musste Philomena schnauben. Urlauber liefen hier genug herum. Soeben blockierte eine schwatzende Rentnertruppe die Dorfstraße, auf der Philomena entlang schlenderte und verhinderte den kommenden Autos das Durchkommen.
Philomena schüttelte mit dem Kopf und lief weiter, den Rentnern noch einen bösen Blick zuwerfend, die nur verwundert zurückschauten.
Das kleine Dorf, Monoco, war schon einen Ausflug wert, denn es schmiegte sich behaglich an den größten Berg der Umgebung – dem Montono. Unter dem Schatten des Montono standen zahlreiche Umgebindehäuser voll malerischer Schönheit. Jedes sah anders schief aus. Da die Häuser recht alt waren, standen sie auch nicht mehr so gerade, wie sie eigentlich stehen sollten. Die Landschaft rund um das Dorf lud zum Wandern ein – aber das alles war nichts, was vielleicht einen Jugendlichen hier interessieren würde.
Philomena und ihre Freunde langweilten sich hier zu Tode, weil es keine Angebote für Jugendliche wie sie gab. So zogen sie allabendlich durch das Dorf mit Bierflaschen in der Hand, stiegen in lehrstehende Häuser ein und suchten den gewissen Nervenkitzel, den sie am Tage im Rentnerdorf, wie sie es nannten, nicht fanden.
Gerade war Philomena wieder unterwegs zu einem ihrer Freunde, um ihn zu fragen, was sie heut Abend wieder machen würden. Viel erwartete sie nicht – ihr bester Freund Rupert würde wahrscheinlich wieder vor seinem Auto hängen, dran herumbasteln und sagen: „Weiß ich noch nicht...“ Philomena musste bei diesem Gedanken den Kopf schütteln. Rupert war schon ein unmöglicher Automensch. Alltäglich tüftelte er etwas neues für seinen „Schatz“, wie er es nannte, aus. Aber so waren alle Jungs hier in Monoco – vielleicht nicht ganz so verschärft, wie Rupert, doch auch die anderen bastelte mit größter Vorliebe an Autos herum.
Schon von weiten hörte Philomena ein lautes Wummern, was Musik darstellen sollte. Bei der Lautstärke jedoch konnte man nicht so genau herausfinden, um was für einen Titel es sich hier handelte. Zumindest kündigte dieses Wummern an, dass Rupert durchaus anwesend war.
Ihr kam ein kleines Umgebindehaus ins Sichtfeld, welches an einer Kreuzung stand und reichlich verloren aussah. In der Einfahrt des Hauses neben der Garage stand ein weißer VW mit blauer Motorhaube und Rückspiegel. Für Philomenas Geschmack sah das Auto etwas merkwürdig aus mit diesem grellen blau auf der Haube. Aber es war ja nicht ihres. Unter dem Auto schauten zwei verschmutzt aussehende Schuhe hervor, die sich dann und wann bewegten. Dazu gab es ein klackendes Geräusch – Rupert schien mal wieder an irgendetwas herum zu basteln.
„Ach, verdammt!“, ertönte es unter dem Auto. All das konnte Philomena selbst über die Musik heraushören, denn diese Geräusche waren ihr vertraut. Kopfschüttelnd ging sie in die Garage, die Rupert zum Jugendtreffraum umfunktioniert hatte. Jedoch hatte er dabei vergessen die Autoutensilien und das Motorrad ordentlich auf zu räumen. Überall lag Papier herum und auf dem Schrank stapelten sich die Bierflaschen. Philomena ging zu der Stereoanlage, die an einen riesigen Lautsprecher gekoppelt war und drehte um einige Zacken leiser.
„EY!“, schrie Ruperts Stimme. „Was soll’n das?!“ Philomena lehnte sich lässig gegen die Garagentür und sah auf die Schuhe, von denen nun langsam Beine und der Rest des Körpers zum Vorschein kamen. Rupert steckte sein hochrotes mit Sommersprossen übersätes Gesicht unter dem Auto hervor. Seine orangefarbenen Haare standen nach allen Seiten ab, wo sie doch sonst immer ordentlich nach hinten gekämmt waren. Rupert war ein schmächtiger junger Mann, der soviel essen konnte, wie er wollte: Er blieb so dünn.
„Ach, hallo Philo“, kam es leicht genervt von Rupert. Er wandte seine blaugrünen Augen wieder seinem Auto zu. „Du, ich hab keine Zeit. Hab noch viel zu tun.“
„Ich seh’s“, antwortete Philomena. „Was machst du denn da?“
„Bremskabel wieder einbauen.“
„Aha.“ Philomena interessierte sich nicht wirklich für das Auto. Sie hasste es wohl eher, weil ihr bester Freund so viel Zeit und Geld da hinein investierte. Aber jedem das Seine.
„Ich wollte dich nur fragen, ob wir heut Abend noch irgendetwas machen – mir ist total langweilig.“ In Wirklichkeit schlug sie sich noch immer mit dem Bürokram der Lichtweisen herum. So musste sie zum Beispiel ihren Eltern etliche Formulare geben, in denen erklärt wurde, was ein Lichtweiser war, warum sie es war und dass sich die Eltern da nicht einzumischen hatten. Der letzte Teil gefiel Philomena am besten, denn ihre Eltern mischten sich ständig ein. Leider gab es auch einen Teil, in denen die Strafen für Ungehorsam aufgelistet waren, welchen Philomena nicht sehen durfte.
„Weiß nicht... mal sehen, was Tarius heut vorhat.“ Philomena überlegte kurz. Tarius war ein recht passiver und undurchsichtiger Mensch – der einzige, den sie noch nicht durchschaut hatte. Sie wusste nicht, was er von ihr hielt und das machte ihn zu einem fast unheimlichen Menschen für sie.
Rupert musterte sie kurz und verschwand dann wieder wortlos unter dem Auto.
„Ich komm heut Abend noch mal vorbei“, rief Philomena unters Auto. „Dann werden wir ja sehen.“
„Okay! Bevor du gehst – mach doch bitte mal die Musik lauter.“ Philomena zuckte mit den Schultern und verschwand wieder in der Garage. Mit verzogenen Gesicht drehte sie die Musik lauter und wandte sich dann wieder um. Jedoch hielt sie in der Bewegung inne, denn draußen ertönte ein lautes Auto mit einem dunklen Sound. Den Geräuschen nach zu urteilen hielt es genau vor Ruperts Einfahrt. Kurz darauf ging eine Autotür auf.
„Hey, Tarius!“, rief Rupert, der wahrscheinlich wieder unter dem Auto hervorkroch. Na wenn man vom Teufel spricht, dachte Philomena.
„Philo, mach mal leise!“, schrie Rupert. Philomena verdrehte die Augen. Wieder an ihrer Unterlippe kauend, wandte sie sich um und drehte leiser.
„Na, was geht?“, wehte Ruperts’ Stimme herein.
„Du, ich wollte dich fragen, ob wir irgendwas machen können heut abend. Ich bin total genervt und...“ Philomena stand noch immer in der Garage. Rupert dagegen lachte lauthals auf.
„So ein Zufall. Philo hat mich auch gerade gefragt, ob wir was machen können...“ Philomena kam aus ihrem Versteck hervor. Sie setzte eine möglichst ausdruckslose Miene auf, so wie Tarius es immer bei ihr tat.
„Hi“, rief sie, ein wenig lächelnd.
„Hy, Philo“, sagte Tarius tonlos, die Hände immer noch in den Hosentaschen seiner weiten Hosen gesteckt. Sein Gesicht drückte wie des öfteren nichts aus. Seine blaugrauen Augen blieben stumpf und leer und sein dunkelgrünen Haar stand nach allen Seiten ab, als ob er gerade aufgestanden wäre. Tarius war etwas kräftiger gebaut und besaß im wahrsten Sinne des Wortes einen Bierbauch. Auf sein Äußeres achtete er überhaupt nicht, aber das tat hier niemand.
Hinter Tarius stand sein schwarzer Honda Civic, der von allen Freunden bewundert wurde. Rotes Neonlicht, rote zackige Vinyls und Bassboxen, die einen beträchtlichen Sound hatten gehörten unter anderem zu der Ausstattung des Fords. Auf der Heckscheibe stand groß und rot „Devil“ dran.
Ruperts Blick wanderte von einem zum anderen, bevor er sich seine Hände an seiner Hose abschmierte und sagte: „Wie wärs mit DVD-Abend bei mir in der Garage?“
„Hm... könn ma machen.“ Noch immer drückte Tarius etwas passives aus. Er sah Rupert bei der Antwort gar nicht an, sondern starrte ins Leere.
„Und wann fangen wir an?“, fragte Philomena, Tarius aus den Augenwinkel beobachtend.
„Naja... so um sieben, okay?“ Philomena nickte, genauso wie Tarius.
„Ey sag ma, was machste denn hier?“, kam es plötzlich von ihm.
„Bremskabel einbauen“, grinste Rupert. „Eins hab ich schon drin.“ Tarius hob eine Braue und betrachtete das Auto skeptisch, das auf dem Wagenheber hing.
„Geht’s denn auch?“
„Natürlich!“, rief Rupert mit einer übertriebenen Geste. Galland öffnete er sein Auto und ließ sich hineinplumpsen. „Alles was ich mache, geht!“ In diesem Moment warfen sich Philomena und Tarius zweifelnde Blicke zu. Rupert hatte schon oft genug eine Arbeit in den Sand gesetzt. Das, was er schaffte, rückte er nur gerne einmal in die Sonne.
Rupert zog die Handbremse an, während Tarius sich hinhockte und an den Reifen testete, ob es auch funktionierte.
„Baast“, rief er. Philomena schüttelte leicht lächelnd den Kopf. Das Wort „Baast“ im Sinne von „Passt“ gab er immer wieder von sich.
„Na siehste, ich kann’s halt!“, brüstete sich Rupert, wieder aussteigend.
Langsam wurde es Philomena zu dumm. Die Jungs unterhielten sich nur über das Auto, wo sie nicht mitreden konnten und waren so in ihr Fachgespräch vertieft, dass sie wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen hätten, wenn sie sich davonschleichen würde.
„So Jungs“, sagte Philomena so laut wie möglich. „Ich geh jetzt erst Mal. Wir sehen uns.“
„Jaja“, kam es von beiden nicht gerade mit Elan, denn sie wandten sich sofort wieder dem einen Thema zu: Autos.
Kopfschüttelnd lief Philomena nach Hause. Sie mochte zwar auch Autos, doch mit der Technik kannte sie sich überhaupt nicht aus. Sie hoffte, dass die Jungs heut Abend etwas anders drauf waren und ihre Autos erst Mal vergessen würden.
*
Zu Hause schlich Philomena durch die Hintertür, damit sie ihren Eltern nicht begegnen musste. Sie hielten die Dokumente in der Hand, die sie eigentlich vergessen wollte. Zumindest heute. Sie wusste, dass sie irgendwann in ihr Zimmer blicken würden, um alles mit ihr durch zu sprechen. Für das Amt der Lichtweisenkommandantin verdiente sie auch Geld. So konnte sie ihre Ausbildung als Verkäuferin abbrechen.
In ihrem Zimmer angekommen, ließ sie sich erst Mal seufzend auf ihr Bett fallen. Sie starrte die Decke an und versuchte an nichts zu denken. Der Tod persönlich starrte zurück. Überall in Philomenas Zimmer hingen düstere Bilder des Sensemannes. In einer Ecke hatte sie ein umgedrehtes Pentagramm aufgemalt, dass von einem leuchtenden Feuer umschlungen wurde. Schwarze und rote Kerzen ummalten die düstere Atmosphäre, genau wie die schwarzen „Tischdecken“ der Schränke und des Tisches, welcher in der Mitte des Zimmer stand.
Wäre ein Unwissender in Philomenas Zimmer geschlichen, hätte er sofort gedacht: eine Satanistin! Ihre Freunde jedoch wussten, dass sie nur ein normaler Mensch war, der etwas gegen die Welt hatte. Alles, was verboten und verhöhnt wurde, war gut genug für sie. Je verbotener desto besser. Philomena trug meist schwarz, um ihre Ablehnung gegen die Welt auszudrücken. Immer, wenn sich die Menschen über sie das Maul zerrissen, hatte sie wieder einmal gewonnen.
Philomena kuschelte sich in ihre schwarze Satinbettwäsche und schloss die Augen. Sie wollte vergessen, was sie war, wollte einfach nicht nachdenken. Vielleicht konnte sie sich wenigstens heut Abend noch ablenken, denn morgen musste sie mit Tendor in die Schule, um sich abzumelden. Dann würde sie offiziell ihre Stelle als Lichtweise antreten. Wie sehr sie es doch hasste...
*
Gegen Abend, nachdem sie sich bei ihrem Bruder und ihren Eltern vorbeigeschlichen hatte, war Philomena auf dem Weg zu Rupert. Sie wurde von Karlos begleitet, ihrem dicken guten Kumpel, den sie schon lange kannte, aber erst seit geraumer Zeit zu schätzen lernte. Er schob sein Fahrrad vor sich her und zog eine Miene, wie drei Tage Regenwetter.
„Was ist los, Karlos?“, fragte Philomena vorsichtig, bedacht darauf ihn nicht gleich zur Weißglut zu bringen. Karlos wurde ganz schnell heftig, was aber eher daran lag, dass er sich tagtäglich mit seinem Bruder stritt.
„Nichts. Nichts.“ Philomena zog die Stirn kraus. Sie glaubte ihm kein Wort.
„Ah ja, und wenn „nichts nichts“ ist, dann schaut man, als ob man auf eine saure Zitrone gebissen hat.“
„Ich sehe immer so aus.“ Er versuchte zu grinsen, was ihm aber kläglich misslang.
„Weißt du was? Du machst dir einfach zu viele Gedanken!“, stellte Philomena trocken fest.
„Rupert ist ein Nichtsnutz!“, platzte es aus Karlos heraus. „Er versauert daheim und tut nichts weiter, als an seinem Auto herumbasteln – als ob dies das Wichtigste auf der Welt ist!“ Da hatte Karlos allerdings Recht. Rupert könnte sich wirklich mal eine Arbeit suchen, was er vielleicht auch tat – jedoch nicht intensiv genug,
„Es ist Ruperts Leben, nicht deins...“ Philomena warf einen Blick auf Karlos, der sie ausdruckslos ansah.
„Ich soll also zusehen, wie er zu Grunde geht.“
„Wenn du dich einmischt, dann wird er noch sturer und kommt sich vor, wie ein Mensch, den man bevormundet. Er muss selber wissen, was er tut. Aus Fehlern lernt man.“
„Und wenn man seine Fehler nicht einsieht?“ Philomena zuckte mit den Schultern.
„Dann hat man Pech gehabt.“ Karlos stöhnte, was Philomena auch berechtigt fand. Zur Zeit war ihr wirklich alles gleichgültig, weil sie einfach zu viel um die Ohren hatte.
Das Haus der Geschwister kam in Sichtweise. Ruperts hatte noch eine Schwester namens Amelie, die gerade aus der Haustür mit dem Hund Micky kam. Sie machte einen nicht gerade glücklichen Eintrug – wie Karlos sah auch sie des öfteren Missgelaunt in der Weltgeschichte herum.
„Hallo Philo! Hallo Karlos!”, grüßte sie übertrieben. Karlos ging sofort auf sie zu und umarmte sie herzlich. Sofort versanken beide in einem leidenschaftlichen Kuss. Philomena drehte sich weg. Ihr war so was immer sehr unangenehm.
Sie ließ die beiden allein und ging in die Garage, wo nun nur noch leise Musik vor sich hindudelte. Rupert saß vor seinem Notebook und arbeitete in einem Zeichenprogramm an der Aufschrift „Volkswagen“. Philomena verleierte die Augen.
„Na du?“, grüßte sie ihn. Rupert zuckte hoch und sah sie ein wenig erschrocken an. Er hatte sie gar nicht kommen hören.
„Philo! Du bist ja schon da...“ Philomena legte den Kopf schief.
„Es ist um sieben. Zeit, dass wir anfangen, nicht oder?“ Sie grinste. Rupert wandte sich wieder seinem Zeichenprogramm zu.
„Ach, du hast ja morgen Schule, stimmt ja.“ Philomena schluckte und sah an die Wand, um ihm nichts zu verraten.
„So ähnlich, ja“, murmelte sie. Zum Glück bekam Rupert den Unterton nicht mit, denn er klickte soeben sein Programm weg und war vollauf beschäftigt.
„Wir gehen jetzt los“, rief plötzlich Amelie, die hinter Philomena aufgetaucht war. Rupert klappte seinen Laptop zu und sah Amelie verwundert an.
„Ich dachte ihr schaut mit...“
„Nein, keine Lust. Wir gehen zu Karlos.“ Rupert grummelte leise, was nur Philomena hören konnte. Sie stand mit verschränkten Armen teilnahmslos daneben und ihr Gesicht drückte gar nichts aus.
„Na dann viel Spaß.“ Der Satz klang schon recht knurrig, doch Amelie bekam das nicht mit.
„Danke, werden wir haben.“ Sie warf Philomena einen vielsagenden Blick zu. Philomena grinste höfflich zurück, doch im Grunde genommen dachte sie eher daran, dass die beiden kaum noch was mit ihnen unternahmen und nur noch sich selbst sahen.
„Tschö!“, rief Karlos von draußen. Und schon waren sie wieder verschwunden. Rupert saß auf der Coach, wie ein verlorener Wanderer.
„Das die nicht mal wenigstens ne Stunde bleiben können!“, brauste er auf. Philomena zuckte mit den Schultern.
„Ich habe mich schon längst damit abgefunden... es ist eine Seltenheit, dass ich noch was mit Amelie unternehme... aber egal...“ Rupert sah auf.
„Trotzdem kotzt es mich an!“
„Ach, vergiss es und denk nicht dran. Wir haben ja noch uns.“ Sie grinste. „Wo ist eigentlich Tarius?“
„Der kommt nicht“, sagte Rupert mit todernster Miene. Philomena ah Rupert verwundert an.
„Hä? Da hat er sich ja schnell umentschieden... Rupert!“ Rupert konnte sich ein lachen nicht mehr verkneifen. Er sprang auf und klopfte ihr prustend auf die Schulter.
„Reingelegt!“, rief er immer noch lachend. Philomena verzog ihre Miene säuerlich.
„Du Idiot!“ Sie kniff ihn in die Seite, worauf er ihren Arm ergriff und ein drohendes „Du!“ von sich gab.
„Störe ich?“ Philomena zuckte zusammen und wand sich auf Ruperts Griff. Tarius stand in der in der Tür.
Rupert grinste.
„Natürlich nicht! Wir haben auf dich gewartet!“ Philomena rieb sich den Knöchel, den Rupert so hart angepackt hatte.
Tarius kämpfte sich an den Beiden vorbei und ließ sich am Ende der Coach fallen.
„Bier?“, fragte er, als wäre dies das Normalste auf der Welt. Dabei verschränkte er die Arme und sah Rupert herausfordernd an.
„Natürlisch!“; rief dieser, schon mit dem Kopf über dem Porterbierkasten hängend und drei Flaschen rausziehend. Während Rupert die Flaschen öffnete und weiterreichte, ließ sich Philomena vorsichtig und mit einem kleinen Abstand neben Tarius fallen, der grinsend eine Flasche Goldkrone hervorzog. Philomena sah diese mit großen Augen an.
„Hast du heut nicht schon genug getrunken?“, fragte sie mit belehrenden Unterton, der aber nicht ernst gemeint war. Er sah sie gespielt empört an.
„Zwei Bier? Ne, bestimmt ne!“ Tarius galt als ein Biertrinker der feinsten Sorte. Er vernichtete am Tag gerne einmal ein paar Flaschen und auch große Bullen Schnaps gingen dabei drauf. Was ihn am wenigsten interessierte war seine Gesundheit. Aber er kam auch ohne aus – zumindest hoffte das Philomena. Auch sie trank oft gerne mal etwas mit und da die Gruppenzusammenkünfte fast allabendlich waren, hing auch sie tagtäglich an der Bierfalsche.
„So“, gab Rupert von sich. Er ließ sich neben Philomena nieder und öffnete wieder den Laptop. Philomena selbst klammerte sich schon an ihrer Bierflasche fest und nippte vorsichtig dran. Ob es gut war jetzt noch was zu trinken, wo sie doch morgen noch Restalkohol im Blut hatte? Das würde zumindest erst mal einen guten Eindruck schinden – wo sie doch auch noch vor den obersten Rat der Lichtweisen treten musste. Sie sah die Flasche an und musste plötzlich grinsen. Oh ja, es würde Eindruck machen. Vielleicht flog sie dann so schnell wie möglich raus. Fest entschlossen packte sie die Flasche und kippte erst mal einen kräftigen Schluck herunter.
Tarius beobachtete sie.
„Na, na, der Abend ist noch lang“, mahnte er sie, selbst an seiner Flasche nippend. Philomena setzte die Flasche ab und wischte sich über den Mund.
„Ich weiß“, grinste sie. „Ich will ja so viel wie möglich vernichten.“ Tarius schüttelte den Kopf.
„Man sollte seinen Frust nicht im Alkohol ertränken“, meinte er mit gespielten Ernst.
„Das musst du gerade sagen!“ Tarius grinste nur und trank wieder einige Schlucke.
Der Abend brachte Philomena wirklich dazu, zu vergessen. Sie trank einiges, wurde lustig und machte dumme Witze über den Film, den sie sich ansahen. Dieser hatte keine rechte Handlung und war nur eine Sammlung von sinnlosen Gags und Effekten. Die Jungs, auch langsam angetrunken, stimmten in ihre Geblödel mit ein und lachten herzhaft. Noch klangen sie unbeschwert und ausgelassen. Auch wenn sie sich alle Gedanken machten – sei es nun Rupert, Tarius oder Philomena. Sie wussten nicht, dass sie alle drei bald zu einem Ereignis beitragen würden, was die Geschichte verändern würde. Sie waren drei unbeschwerte Freunde, wenn sie zusammenkamen. Konnten Schwierigkeiten die Freundschaft zerbrechen? Oder war sie schon fest genug, um auch Anschlägen stand zu halten?
„Weischt du Tariusch – du schaust imma so paschiv!“, lallte Philomena, die nicht nur drei Flaschen Bier sondern auch etliche Gläser Goldkrone gelehrt hatte. Tarius sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„So?“ Philomena nickte eifrig und griff dabei wieder zum Glas. Der Film war längst vergessen. Die drei unterhielten sich nun nur noch, wenn auch mit einigen motorischen Schwierigkeiten. Denn auch Rupert schien nicht mehr klar denken zu können, denn sein Kopf hing auf Philomenas Schulter.
„Da hatse Recht!“, stimmte die Stimme auf Philomenas Schulter zu.
„Siehste, sogar er hats gemerkt – und dasch will wasch heischen!“ Rupert kniff ihr in die Seite.
„Nimm das zurück!“
„Nö“, gab sie frech zurück und schon ging eine wilde Kampelei los. Tarius verleierte die Augen und stand auf. Er war der einzige, der den Giften des Alkohols nicht mehr erlag und somit bei klarem Verstand blieb.
„Ich geh dann los“, sagte er. Die beiden hielten in ihren Bewegungen inne. Philomena hatte Rupert an der Nase gepackt, während er an ihren Haaren zog. Beide blinzelten, denn sie konnten nicht mehr so klar sehen.
„Jetsch schon?“, kam es von beiden synchron. Tarius konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ja, es ist um zwölf durch“, sagte er auf die Uhr zeigen. Beide wandten ihre Köpfe und öffneten den Mund. Wie schnell doch die Zeit verging.
„Nun gut – dann komsch mit!“, rief Philomena. Sie stand auf und taumelte sofort gegen Tarius. Er fing sie auf.
„Hey, immer langsam.“ Philomena war diese Situation selbst im betrunkenen Zustand mehr als unangenehm.
„Tschuldigung“, nuschelte sie, die Hände faltend.
„Macht nischt.“ Rupert sprang auf. Er torkelte nicht.
„Na gut, da geh ich jetzt ins Bett.“ Er streckte sich. „Es wird Zeit.“
Die Freunde verabschiedeten sich und liefen los. Tarius begleitete Philomena noch nach Hause. Die junge Frau schwieg, denn ihre Gedanken schwebten beim morgigen Tag.
„Ist irgendetwas?“, fragte Tarius nach einer Weile, was er eigentlich nie tat. Philomena sah ihn an und seufzte.
„Ne Menge“, murmelte sie. „Es wird sich viel ändern...“ Da sie betrunken war, dachte sie auch nicht darüber nach, was sie Tarius da sagte.
„Was wird sich ändern?“, fragte er, eine Braue hebend.
„Mein Leben...“ Philomenas Stimme klang typisch melancholisch.
„Warum?“
„Kann ich nicht sagen...“
„Aha...“
„Ich darf es nicht sagen...“ Tarius schwieg, sah sie aber nachdenklich an. Sie blieben vor ihrem Haus stehen.
„Gute Nacht, Philo“, sagte Tarius. „Schlaf deinen Rausch aus.“ Philomena lächelte schwach.
„Du auch...“ Sie schloss die Tür auf und trat ein. „Wünsch mir Glück für morgen“, nuschelte sie. Dann war sie verschwunden.
Tarius starrte noch ein paar Sekunden die Tür perplex an. Ihr Glück wünschen? Wofür? Schrieb sie eine Arbeit? Hatte sie etwas ausgefressen? Dieses melancholische Mädchen kam ihm von Tag zu Tag merkwürdiger vor. Wenn sie etwas trank, dann redete sie wirres Zeug, was die anderen nicht verstanden. Manchmal war sie richtig unheimlich. Da Tarius aber jemand war, der so etwas gerne vergaß, machte er sich auch keine weiteren Gedanken darüber. Er lief schulterzuckend weiter, kam aber nicht umhin sich noch einmal um zu drehen, um zu sehen, ob das Licht oben in ihrem Zimmer schon brannte. Es war an! Dann hatte sie es bis hoch geschafft.
Kopfschüttelnd lief er weiter, die Hände in seinen Hosentaschen versenkt. Die Nacht war frisch und der Sternenhimmel klar. Alles wies auf einen kommenden schönen Tag hin. Tarius wollte aber ebenfalls nicht an den kommenden Tag denken, da er nicht gerade schöne Dinge mit sich brachte. Eine Versammlung wartete auf ihn und er wollte beim besten Willen nicht hingehen. Doch da er keine Strafe gebrauchen konnte, musste er wohl oder übel.
Tarius seufzte und sah in den Himmel. Das konnte ja heiter werden morgen!